Peter Grimes
»Stark. Ergreifend. Genial.« Opernwelt
»Die Aufführung ist eine Sternstunde« nmz (Neue MusikZeitung)
»Erschütternd. Hat mich lange nach der Oper nicht mehr losgelassen« Das Opernglas
»Großartige Produktion. Ein Opernabend, der unter die Haut geht« Der Opernfreund
»Fesselnde und atmosphärisch dichte Inszenierung« Online musik Magazin
»Kluge Personenführung« nd.DerTag
»Starke und dabei ebenso unterhaltende, immer hochklassige Produktion.« Theater der Zeit
»Der erste Leipziger 'Peter Grimes' ist ein Triumph« Leipziger Volkszeitung
Fesselnd und atmosphärisch dicht
"Es hat nichts mit dem Meer zu tun", wird Benjamin Britten von Regisseur Kay Link im Programmheft zu Peter Grimes zitiert. Das stimmt natürlich nicht; denn das Meer ist allgegenwärtig in dieser Partitur. [...] Und gleichzeitig geht es überhaupt nicht um das Meer, sondern um die Dorfgemeinschaft und den Außenseiter, und das kann irgendwo auf der Welt sein. Es geht um die Bedingungen des Zusammenlebens.
In den ersten Takten dieser Aufführung sieht – oder besser: ahnt – man auf der noch dunklen Bühne eine Menschenmenge, die in Wellenbewegungen nach vorne drängt. Damit setzt Regisseur Kay Link gleich zu Anfang den Rahmen für eine Inszenierung, die den symbolischen und den atmosphärischen Gehalt der Naturbilder geschickt ausbalanciert, dabei aber fern jeder romantischen Verklärung oder einer Seefahrerfolklore bleibt. Im Gegenteil: Die Fischerei ist für diese sehr heutige Gesellschaft längst Vergangenheit, sie wird bestenfalls zitiert beim Dorffest, das wie eine Mottoparty zu diesem Thema aufgezogen ist. Als Einheitsbühnenbild dient eine riesige leere Industriehalle (Bühnenbild: Dirk Becker), die jetzt offenbar als Dorfgemeinschaftshalle genutzt wird. Aber ein wirklich realer Raum ist auch das nicht, eher ein Assoziationsraum. Halbdurchsichtige Plastikvorhänge trennen in ein Drinnen und Draußen, wenn dahinter Gottesdienst gefeiert wird und davor die Lehrerin Ellen Orford mit Grimes' neuem Lehrjungen John am Strand sitzt. Das Meer erscheint ganz real in einigen Videosequenzen (Tilman König), und es klingt in den graugrünen Farbtönen der Halle nach. Die Menschen tragen heutige Kleidung in gedeckten Farben (Kostüme: Silke Wey), und man glaubt bei allen eingebauten Brüchen sofort: So könnte es aussehen in irgendeinem Dorf an der entlegenen englischen Küste. Fischer ist hier, eine böse Pointe, aber wohl nur noch einer, nämlich Peter Grimes – ein Spinner eben, der nicht lassen kann von einem längst abgewickelten Gewerbe und der nichts verstehen will von der neuen Zeit. Der infolge seiner Besessenheit womöglich nicht unschuldig ist am Tod seines ersten Lehrjungen.
So wie in dieser Inszenierung das Meer gleichzeitig ganz nah und ganz fern ist, so verschränkt sie auch virtuos eine naturalistische Erzählweise samt genauer Milieustudie mit einer abstrakten, übergeordneten Deutung. Wenn Grimes den neuen Lehrjungen in der Hütte zum Aufbruch drängt (was zu einem tödlichen Unfall führen wird, dem zweiten in kurzer Zeit), dann wird Peter Grimes' Hütte auf einem improvisierten Podest aus Holzpaletten nur angedeutet wie eine kleine Bühne, und wie in einem Theater sitzen die anderen Außenseiterinnen um diese Szene herum. [...]
Sexualität ist ja ohnehin das latente Subthema dieser Oper. Das Motiv des Knaben, hier in Gestalt des Lehrjungen John, zieht sich durch das Opernschaffen Brittens hindurch als kaum verhüllte Chiffre für Homosexualität. Der neue Lehrjunge John ist hier ein fast erwachsener junger Mann, der sich seiner Attraktivität durchaus bewusst ist. Auch Ellen Orford kann sich dem nicht entziehen (was ihr Verhältnis zu Grimes relativiert), und Grimes merkt man die Faszination an, ohne dass er in irgendeiner Form übergriffig wird. Im Video wird man später sehen, wie er in tiefer Trauer den toten Jungen im Arm hält (im Meer übrigens). Dieser Lehrjunge John ist hier eine unverkennbare Anspielung auf Tadzio, den Jungen aus Thomas Manns Tod in Venedig (die Novelle lieferte rund 25 Jahre nach der Komposition von Peter Grimes den Stoff für Brittens letzte Oper Death in Venice, womit sich der Kreis schließt). Die Regie sympathisiert mit Peter Grimes, die Zweifel an seiner Integrität bleiben hier schwach. Vielmehr scheint die Frage zu sein: Könnte man sich in diesem engen Kosmos offen zur Homosexualität bekennen, oder verlangt die Gemeinschaft eben doch traditionelle Rollenmodelle? Link inszeniert das unaufdringlich und fast nebenbei, aber eben durchaus sichtbar.
FAZIT: Die fesselnde und atmosphärisch dichte Inszenierung von Kay Link erzählt die Geschichte von der Küste sorgfältig nach und abstrahiert sie gleichzeitig zu einer Parabel, die überall spielen kann. Auch musikalisch sehr eindrucksvoll.
Stefan Schmöe, omm.de (Online Musikmagazin)
Prachtvolle Leistung
Viele Regisseure haben diese Suffolk-Atmosphäre, die für Britten von so großer, ja geradezu magischer Bedeutung war, auf die Bühne gebracht, die malerischen am Strand von Aldeburgh liegenden Fischerbote, die bunten Strandhäuser, die Verkaufsbuden und die historische Mood Hall, wo das Gerichtsverfahren gegen Peter Grimes stattfindet. Kay Link, der für die Inszenierung in Leipzig verantwortlich zeichnet, ist an solchen pittoresken Dingen allerdings kaum interessiert. Er sieht in der musikalischen Beschreibung des Meeres, in den faszinierenden „Sea Interludes“ etwas anderes als nur Naturschilderungen und beruft sich damit auf Britten, der gesagt hat: Es hat nichts mit dem Meer zu tun, es hat mit den Leuten im Borough zu tun… oder nein, diese Leute sind überall gleich, wo sie auch sind.“ So hat er seinen Bühnenbildner (Dirk Becker) einen schmucklosen, ärmlich wirkenden Einheitsfestsaal bauen lassen, der dank eines halbtransparenten Vorhangs und zahlreicher Video-Projektionen in allen drei Akten genutzt werden kann.
Kay Link hat die Handlung vom Beginn des frühen 19. Jahrhundert in die Gegenwart verlegt, was natürlich deutlich an den Kostümen (Silke Wey) zu sehen ist. […] Die Bewohner des Städtchens haben […] moderne Jobs, sind also kaum noch Fischer – nur noch bei besonderen Festen (wie im dritten Akt) erinnern sie sich an die einst das Leben aller beherrschenden Tradition des Fischfangs. […]
Natürlich spielt das Thema der Homosexualität auch im »Peter Grimes« eine wichtige Rolle, wenn auch in sehr verdeckter Form. Britten selbst war homosexuell, lebte mit seinem Lebensgefährten Peter Pears im „Red House“ in Aldeburgh zusammen, vermied es aber von seiner Veranlagung auch nur andeutungsweise zu sprechen. Zu seinen Lebzeiten (1913-1973) wurde schließlich die gleichgeschlechtliche Liebe mit Gefängnis bestraft. Kay Link hat dieses Thema in seiner Inszenierung aufgegriffen und keinen Zweifel an Peter Grimes‘ Veranlagung gelassen. Er zeigt in tranceartig mit dem Lehrjungen (Jonathan Waldorf, stumme Rolle). und später, wenn der Apprentice ertrunken ist, sehen wir den zutiefst erschütterten Grimes im Meer stehend, die Leiche des Jungen in beiden Armen haltend (Video: Tilman König), das erinnert stark an die Pieta von Michelangelo und ist herzzerreißend. Während das Wasser die schönen Gesichtszüge des Knaben umspült, beugt sich Grimes hinunter um ihn zu küssen – während aus dem Orchestergraben die aufwühlende Musik eines der „Sea Interludes“ erklingt.
Eine Aufführung des »Peter Grimes« steht und fällt natürlich mit der Darstellung der Titelfigur. Leipzig kann sich glücklich schätzen, diese Rolle mit einem Mitglied des Ensembles besetzen zu können, mit dem amerikanischen Tenor Brenden Gunnel. […] Seinen Schlussmonolog, wenn er einsieht, dass für ihn kein Platz mehr ist in der Gesellschaft, gestaltet Gunnel zwischen Aufruhr und Resignation – das ist erschütternd und hat mich lange nach der Oper nicht mehr losgelassen.
Die Rolle der Ellen Orford ist deswegen so schwierig, und undankbar, weil die Verbindung mit dieser Frau für Peter nur Mittel zum Zweck ist, zur Erlangung einer „ordentlichen“ bürgerlichen Existenz. von Liebe ist da keine Spur, wohn noch nicht einmal von echter Zuneigung. […] Die Sopranistin Martina Welschenbach … wirkt trotz ihres klangvollen runden Soprans immer ein wenig kühl und distanziert. Eine prachtvolle Leistung.
[…] Es ist bewundernswert, wie jeder einzelne Chorist in der Masse aufgeht und doch als Individuum erkennbar bleibt. Beklemmend ist die Szene, wenn während der dramatischen Sturmmusik die braven Bersürgersleute alle über Grimes herfallen um ihn zu misshandeln. […]
Langer, begeisterter Applaus für alle.
J. Gahre Das Opernglas
Stark, ergeifend, genial.
Am wirkungsvollsten kommt der Chor zum Einsatz. Am Anfang ist die Menschenmenge das Meer selbst, ein schemenhaftes, ruhiges, aber unerbittliches Meer. Es schwappt im Halb-, im Dreivierteldunkel näher an den Bühnenrand, schwappt wieder zurück und speit schließlich Peter Grimes aus, der doch einer von ihnen ist, ein Mensch wie die anderen auch, der in der Inszenierung von Kay link sogleich zum Ausgestoßenen wird. Das ist imposant […], Britten wies ja selbst darauf hin, dass dieses Dorf überall stehen könnte, wo das Leben hart und die Natur dominant ist. Darum ist die Anfangssequenz so genial. […]
Der Thematik der Homosexualität widmet sich Link mit einiger Direktheit. Der Junge, der in Grimes‘ Diensten umkommt, ist hier eher ein Mann’scher Tadzio als ein hilfloses Kind. Sein nöliges Gebaren entwerte den Albtraum einer ungeklärten Misshandlung zugunsten einer nicht auszuschließenden Beziehung. […] Ganz stark wiederum ist die Szene, wenn sich die Familien für einen Moment zusammenstellen und auch Peter durch Ellen und den Jungen einmal Frau und Kind um sich hat – womit sich zugleich die Möglichkeit auftäte, seine latente Homosexualität in eine gesellschaftskompatible Bahn zu lenken. Brenden Gunnells eher scheuen als grimmigen Grimes einmal so glücklich zu sehen, ist ein ergreifender Moment.
Opernwelt
Premiere von "Peter Grimes" in Leipzig besticht durch erstklassiges Ensemble
Benjamin Brittens Oper in der Inszenierung von Kay Link beschließt in Leipzig den Reigen der Premieren der ersten Spielzeit der neuen Intendanz. Das zeitlose Stück thematisiert Wutbürger und Sündenböcke.
Für den Fischer Peter Grimes ist das Meer genauso eine Bedrohung wie die wutbürgerlich aufbrausenden Chormassen. Mit dem Meer haben sie alle zu kämpfen. Für Peter sind aber die Mitmenschen das größere Problem. Die haben selbst keine weiße Weste, aber in ihm und seiner sturen Andersartigkeit einen Sündenbock. Ob sie wirklich die Sorge um die armen Lehrjungen umtreibt, die bei Grimes verunglückten? Oder nicht eher das, was sich als düstere Gerüchtewolke über ihm zusammenbraut? Das bleibt genauso in der Schwebe wie die Frage, was Grimes mit den Jungs angestellt hat oder auch nicht. [...]
Noch bevor die Musik einsetzt, lässt Regisseur Kay Link in der Dunkelheit der kargen Bühne (Dirk Becker) die Massen aufstampfen und Peter vor sich hertreiben. Als er vor ihnen auf dem Boden liegt, platscht auch noch eine Ladung Wasser auf ihn. Fortan kämpft er mit beiden: mit der Masse und dem Meer.
In den dosiert und passend eingesetzten Videos von Tilman König kommt zwar das Meer optisch zu seinem Recht - die Lebenswelt der Fischer aber bleibt Andeutung. Ein paar Holzpaletten, Stühle, ein transparenter Zwischenvorhang und diverse Zutaten für das ziemlich heruntergedimmte, karnevaleske Neptunfest der Dorfbewohner reichen aus. Damit verschenkt die Inszenierung zwar einiges an Übersetzung der musikalischen Opulenz, die Christoph Gedschold mit dem Gewandhausorchester entfesselt, ins Atmosphärische der Bühne. Immerhin bleibt der Fokus damit auf die innere Zerrissenheit Peters konzentriert. Gerade in seiner sensibel träumerischen Einsamkeit. Oder, wenn er zu einem Orchesterintermezzo im Video den toten Jungen auf seinen Armen an Land trägt und dabei seine Verzweiflung stumm herausbrüllt. Davor war in einer Traumszene zu sehen, wie Peter mit dem Jüngling verunsichert tanzt, zwischen Ellen und ihm hin und her gerissen ist und sich in einem utopischen Moment mit beiden zusammen als eine Familie sieht. [...]
Auch wenn die Leipziger Inszenierung mehr auf bühnenfüllende Chortableaus als auf die große Aktion setzt, lässt sie von dieser Vielschichtigkeit einiges erahnen. Zudem rücken ein erstklassiges Protagonisten-Ensemble und das präzise auch den Sturm nicht scheuende Orchester die Musik einer Oper ins Zentrum, mit der Britten sich selbst und die englische Oper nach dem Krieg mit einem Schlag an die Spitze katapultiert hatte. [...]
Am Ende, nachdem sich Peter selbst mit dem Boot versenkt hat, um einem erneuten Prozess zu entgehen, braucht das Publikum ein paar Sekunden, bis der Beifall einsetzt.
Freie Presse
Überfällige Erstaufführung nach 78 Jahren
Der erste Leipziger »Peter Grimes« [ist] ein Triumph: Stehendes Gebrüll für Chor, Gunnel, Gedschold, Gewandhausorchester, Begeisterung für den singenden Rest und selbst fürs Inszenierungsteam.
Leipziger Volkszeitung
Großartige Produktion von Brittens „Peter Grimes“ in Leipzig – ein Opernabend, der unter die Haut geht
[...] In den vergangenen Jahrzehnten ist Brittens „Peter Grimes“ trotz seiner Bedeutung nur sporadisch in den Spielplänen der Opernhäuser vertreten gewesen. Offenbar erfordern aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die Flüchtlingsproblematik, entwickeltes Diversitätsverständnis, die Corona-Pandemie eine Aufarbeitung auch auf der Opernbühne, so dass derzeit die Oper eine größere Zahl der Spielpläne der Häuser bereichert. Für Kay Link bedeutete das eine Herausforderung, gegen aktuelle Inszenierungen von Christine Mielitz, Deborah Warner, Stefan Herheim, Stephen Lawless, Christof Loy, Dirk Schmeding, Markus Dietz, Keith Warner, Fredderic Roels und Tilman Knabe eine eigenständige Produktion auf die Leipziger Opernbühne zu bringen.
Da die Fabel der Oper nicht eindeutig ist, nutzte Kay Link den bestehenden Freiraum zu überraschenden Auslegungen. Seine Inszenierung zeigte Grimes zwar als traumatisierten Einzelgänger, doch noch weicher als ihn schon Britten gegenüber der Vorlage Crabbes zeichnete, weniger als Sünder denn als jemanden, gegen den in einem Strudel von Annahmen und Verdächtigungen gesündigt wurde. Viele kleine Nebenhandlungen und eine präzise Personenregie machten die Inszenierung zum Erlebnis, das unter die Haut ging.
Das sparsame Bühnenbild Dirk Becker verzichtete auf üppige Schauwerte und stellt eine der typischen Mehrzweckhallen dar, die am Morgen als Markthalle genutzt werden. Am Tagesverlauf dienen sie für Sitzungen des Gemeinderates, für Begegnungen der Stadtgesellschaft und am Abend durchaus für Feste, ansonsten auch als Lager. Obwohl es keinen Hafen, kein Meeresglitzern gab, wurde das Auge nicht unterfordert. Aus der perforierten Rückwand wurden beeindruckende Chorszenen aufgebaut. Die Dorfgemeinde in den zeitlosen Kostümen von Silke Wey wuselte entweder betriebsam oder rottete sich zum gefährlichen Mob gegen den Außenseiter zusammen. Eine bewegliche Lichtregie von Michael Röger schaffte scharfe Kontraste, weitete und verengte die Szene, passte sich den Seelenzuständen der Agierenden an. Aufwendige Videoinstallationen von Tilman König vermittelten Informationen aus der Vorgeschichte, aus der Außenwelt sowie Stimmungen rund um das Meer. Beklemmend die Bilder vom Tode des ersten Gehilfen Peters.
Der Anfang des zweiten Aktes war zu einer Romanze der Ellen mit dem John und zu einem regelrechten Eifersuchtsdrama durchaus schlüssig umgedeutet. Während die Gemeinde hinter einem Tüllvorhang Gottesdienst hielt, spielte sich in Peters Hütte eine durchaus ausdeutungsfähige Szene zum Unfalltod des von Jonathan Walldorf stumm dargestellten Johns. [...]
Eine großartige, nicht einfache Interpretation einer Oper, die ohne Beispiel in Libretto und in der Musik Pein und Elend eines tragischen Sozialkonfliktes am Beispiel eines Außenseiters vor Augen und Ohren führte.
Am Ende der bewegenden und aufwühlenden Vorstellung gab es den überaus begeisterten, hochverdienten Applaus für die Agierenden und das Inszenierungsteam.
Der Opernfreund
Hochklassige Produktion
[...] Dass der Fischer Peter Grimes kein romantisch idealisierter In-die-Ferne-Gucker an der Steilküste ist, wird recht schnell klar, als die ersten Konflikte auftauchen: sein Lehrjunge kam auf mysteriöse Weise ums Leben, Grimes wird beschuldigt, aber der Richter stellt einen Unfall fest. Im Dorf war und ist er ein Außenseiter, das zeigt auch die Figurenzeichnung von Regisseur Kay Link deutlich – nur der Kapitän Balstrode und Ellen Orford finden Kontakt zu ihm, doch in die Dorfgemeinschaft integriert er sich nicht, obwohl er mit einem neuen Lehrjungen eine zweite Chance bekommt. Grimes ist aber derjenige, der menschliche Stärken und Schwächen zeigt und statt des faden Kneipenlebens im Dorf redliche, harte Arbeit setzen will, was ihm unter dem Druck der Masse nicht gelingt. Das Scheitern des Ausgegrenzten zeigt Link vor allem im fein ausgeformten Spiel der Charaktere, und das gelingt gut dank der großartigen Fähigkeiten der Premierenbesetzung, die bis auf Ellen (Martina Welschenbach von der Deutschen Oper Berlin) durch das hauseigene Ensemble bestritten wird.
Der US-amerikanische Tenor Brenden Gunnell brilliert in der Premiere als Peter Grimes mit seiner starken, farbenreichen Stimme, die er so klug einsetzt, dass man ihm spätestens in seiner Sternen-Erzählung im 1. Akt nur noch an den Lippen klebt. Im Interlude des Orchesters (Wahnsinn, was Musikdirektor Christoph Gedschold über den ganzen Abend hinweg zwischen luziden, stillen Bildern und Entfesselung mit dem Gewandhausorchester Leipzig zaubert!) sieht man ihn auf der Videoleinwand tatsächlich an der britischen Küste umherirren. Später wird die Intensität seiner Gestaltung in dem schon weltabgewandtem finalen Monolog Gänsehaut verursachen. Der findet, wie vieles, auf der zumeist kargen Bühne von Dirk Becker statt. Die Kirche wird durch Plastikplanen abgetrennt, Grimes' Hütte hat nicht einmal Wände, Europaletten dienen als Bettstatt. Das einfache Arbeiterdorf ist nicht beschönigt, [...] will man sich diesem schrägen Dorfleben, in dem auch ein weiblicher Sherlock Holmes (Mrs. Sedler, die Grimes per Videoüberwachung stellen will) und Andy Pipkin aus „Little Britain“ (Boles) ihr Unwesen treiben, tatsächlich anschließen?
Auf gar keinen Fall, denn wenn das Dorf zur Lynchjustiz aufruft und sich im 3. Akt gefährlich nah am Publikum zusammenrottet, stellt man fest, dass man zum ersten Mal in seinem Leben Angst vor einem Opernchor bekommen hat, der (Einstudierung Thomas Eitler-de Lint) seine Hauptrolle in diesem Stück mit Ernsthaftigkeit und Können bestreitet und auch einem Kracher wie „Old Joe has gone fishing“ noch einen Hauch Ambivalenz beigibt.
Regisseur Link formt einige Male Interpretationsspielräume, [...] wenn der Lehrjunge John (Jonathan Walldorf) lasziv am Strand liegt und gestisch zwar Annäherungen sowohl zu Ellen als auch Grimes bestehen, Link belässt es aber bei diesen kleinen Hinweisen, obwohl natürlich das Verhältnis zwischen Lehrjunge (Jonathan Walldorf) und Fischer von Britten aus zentral gestaltet ist. [...]
Nicht nur Gunnells Grimes sorgt am Ende für Begeisterungsstürme, das gesamte Ensemble, Orchester und sogar das Regieteam heimste lauten Applaus ein. [...] Die Herzlichkeit des Beifalls zeigte letztlich auch das endliche Willkommenheißen des Britten-Meisterwerks in Leipzig, in einer starken, Auseinandersetzung ermöglichenden und dabei ebenso unterhaltenden, immer hochklassigen Produktion.
Theater der Zeit
Ein ganz aktueller Peter Grimes
Rezensentengespräch mit Kritiker Bernhard Doppler (Sendung Kultur am Morgen)
Bernhard Doppler (BD): Das Meer selbst spielt in dieser Oper eine große, große Rolle, es ist der Gegenspieler dieses Außenseiters. Und im übertragenen Sinne ist es tatsächlich eine moderne Geschichte, denn das Meer ist gleichsam der Shitstorm, der über einen Einzelkämpfer hereinbrechen kann.
Mod.: Also ein Sturm im doppelten Sinne. […] Was ist jetzt davon in Leipzig auf der Bühne in dieser Inszenierung von Kay Link zu sehen?
BD: Es könnte eigentlich ein Tatort-Krimi sein in einem Dorf, denn die Figuren, die in diesem Dorf auftreten, vom Pfarrer bis zum Apotheker, sind durchaus sehr realistisch gezeichnet, und sie werden in der Inszenierung von Kay Link auch durchaus mit viel Spielfreude gezeigt. Aber es geht dabei um anderes. Auf der Bühne von Dirk Becker gibt es kaum ein Mobiliar, nur Stühle und Holzpaletten auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber Vorhänge, durchsichtige Vorhänge, hinter denen Gestalten auftauchen, Video-Einspielungen vom Meer, das ist sehr gut passend für diese Oper, denn sie zeigt sehr oft Simultanes, also Peter Grimes wie er nachdenkt, wie er nicht weiß, was er tun soll, und hinter dem Vorhang die Dorfgemeinschaft, die in der Kirche versammelt ist, das ist sehr effektvoll, auch natürlich von Benjamin Britten, das besonders Interessante an dieser Oper ist, und das was auch so unter die Haut geht, man weiß wirklich nicht, woran man bei den Figuren ist. Also ist er wirklich ein Mörder oder nicht – bleibt bis zum Schluss offen. [...]
Aber es gibt auch ein interessantes Ensemble, 12 Rollen, und die sind gar nicht so klein. Die interessanteste Rolle ist vielleicht die der Lehrerin Ellen, die schützt ihn vor der Dorfgemeinschaft, sie will ihn auch heiraten, aber gleichzeitig merkt sie, er ist vielleicht dem Jungen mehr zugetan. Und sie singt dann eine ganz berührende Arie über den Pullover dieses verstorbenen Jungen, in den sie einen Anker hineingestickt hat, also ein sehr merkwürdiges Dreiecksverhältnis zwischen Jungen, Peter Grimes und der Lehrerin Ellen, das ist auch ganz interessant. [...]
Mod.: Also musikalisch und inszenatorisch gelungenes Werk; eine Oper, wie gesagt, die durchaus einige Jahre auf dem Buckel hat, aber ganz aktuell daherkommt in Leipzig?
BD: In der Inszenierung von Kay Link, ja.
Bernhard Doppler, Mitteldeutscher Rundfunk
Eine Sternstunde
»Peter Grimes«, 1945 in London uraufgeführt, wurde zum ersten Mal in der Oper Leipzig in einer Neuinszenierung von Kay Link gezeigt und sie wurde auf Anhieb ein überragender Publikumserfolg.
Regisseur Kay Link lässt in seiner Inszenierung keine Zweifel offen. Peter Grimes homoerotische Neigungen, aber auch seine Unschuld (zumindest am Tod es zweiten Lehrjungen), ja seine Verzweiflung und Trauer über den tragischen Unfall werden in einem herzzerreißenden Video gezeigt, in dem Grimes verzweifelt weinend den toten Jungen aus den Fluten holt und auf Armen trägt, herzt und zum Abschied küsst.
Es ist beklemmend, wie die Themen Kindesmissbrauch, Homoerotik und Mord im Raum dieses Werkes schweben und nicht nur textlich, sondern auch musikalisch uneindeutig, zwielichtig bleiben in einer auskomponierten Entlarvungskunst fadenscheiniger Moral. „Der Mensch erfand die Moral, aber die Gezeiten haben keine“, sagt der Apotheker Ned Keene. [...]
In diesem Spannungsfeld zwischen Mensch und Universum, Individuum und Gesellschaft, Meer und Psyche, Schuldzuweisung und Verdächtigung, Wahrheit und verlogenem Spießertum spielt die dreiaktige Oper samt Vor- und Nachspiel. Kay Link inszeniert assoziativ, surreal, suggestiv, nicht linear oder gar realistisch in einem meeresblauen Raum [...]. Grell und plakativ kommt Manches in dieser Inszenierung daher. Überwiegend großartig ist die bewegende Chorregie und die subtile Führung der Gesangssolisten. Die Typen britischen Kleinstadt- und Provinzmilieus werden gut getroffen, [...] die aufgebotene Sängerriege ist superb. [...]
Zurecht wurde auch der Chor (Leitung Thomas Eitler-de Lint) der Oper Leipzig vom Publikum frenetisch gefeiert. Die Aufführung ist eine Sternstunde.
NMZ (Neue Musikzeitung)
Kluge Personenführung
Was machte Regisseur Kay Link aus dieser Vorlage? Er beseitigt Zeitkolorit und Äußerlichkeiten. Die Natur mag in dieser Oper wichtig sein, Sturmfluten mögen am Land nagen und die Gemeinschaft bedrohen – doch interessiert uns kein Fischerdorf um 1830, sondern Ausgrenzung und die Reaktion darauf. Die gefährliche wie die ruhige Natur verweisen in »Peter Grimes« auf das Innere der Menschen, besonders der Titelfigur. Entsprechend sind in Leipzig die Räume (Bühnenbild Dirk Becker) nicht naturalistisch, sondern durch wenige Requisiten nur angedeutet. Die Vorgänge gehen uns an.
Entsprechend wenig war in dieser Inszenierung zu sehen von einem möglichen Grund für Brittens Interesse an diesem Stoff, nämlich dem, dass er als Homosexueller zu Lebzeiten in der britischen Gesellschaft (und nicht nur der) ausgegrenzt und kriminalisiert war. Das Werk aufs Biografische zurückzuführen, ist eher Gefahr als Chance, und die Gefahr wurde hier vermieden. An wenigen, orchestral zarten Stellen ist zu erahnen, dass Grimes an seinem neuen Lehrjungen nicht nur als Arbeitskraft interessiert ist und dass dies der Grund für den Hass sein könnte, der ihn trifft. Angemessen andeutungsweise arbeitete hier die Regie.
nd.DerTag (ehemals Neues Deutschland)
Feindschaften, Shitstorms und ein globales Dorf
[...] Auch wenn die einzelnen Dorffiguren vom Pfarrer bis zur drogensüchtigen Hobbydetektivin sehr genau und auch mit Humor vorgeführt werden, so werden in der Inszenierung von Kay Link vor allem die sozialen Strukturen sehr prägnant deutlich. [...]
Benjamin Britten hat – wie viele seiner Opern – wohl vor allem auch für seinen Lebensgefährten, den Tenor Peter Pears, komponiert. Auch Brenden Gunnell in der Rolle des Peter Grimes ist in allen Facetten dieser rätselhaften Figur beeindruckend und ist voll lyrischer Zartheit, aber auch voll Ingrimm, Ehrgeiz und gefährlicher Cholerik. Bei der Premiere wurde er bejubelt. Doch auch die zwölf Rollen der Dorfgemeinschaft sind keine Randfiguren. [...] Die größte Rolle hat jedoch der Chor der Oper Leipzig (Leitung: Thomas Eitler de Lint). Und gerade in diesen Chören ist "Peter Grimes" 2023 so aktuell. Es verblüfft nämlich, wie ausgerechnet das Medium Oper eindringlich und unter die Haut gehend darzustellen weiß, wie man sich im Dorf, das heißt, im globalen Dorf, behaupten muss. Und auch wie und auf welche Weise Feindschaften entstehen und sich Stürme und auch Shitstorms aufbauen und Personen in die Tiefe reißen. Und das ganz ohne zu moralisieren. [...]
MDR Klassik