Woyzeck³
»Ein Abend, der aus dem kreativen Umgang mit dem Fragmentarischen ein hohes Maß an Vollendung erreicht« TAZ
»Packendes Theater... Eine Inszenierung, die Mut beweist.« Kölnische Rundschau
»Atemberaubend« Kultur Extra Online
»Preisverdächtig« Rheinkultur
TAZ:
Büchner unzensiert
Eine Kostprobe im kreativen Umgang mit dem Fragmentarischen: Das Freie Werkstatttheater Köln bringt in "Woyzeck³" alle drei Szenensammlungen der Tragödie Büchners ungekürzt auf die Bühne
Manchmal ist gerade das Unfertige besonders spannend. Denn es lässt Platz für die Phantasie. Die flüchtige Skizze, das Gesicht mit dem Schönheitsfehler, die Musik, die plötzlich abbricht - alles, was der Welt keine perfekte Fassade entgegensetzt, regt an, regt auf, irritiert oder inspiriert. Georg Büchners "Woyzeck" ist so etwas Unfertiges: ein Fragment. Ein Drama ohne echten Anfang, dafür mit jeder Menge Text für den Mittelteil und verschiedene Schlussversionen. Spannender geht eigentlich kaum.
Dass viele Schüler den "Woyzeck" trotzdem nur als angestaubte Deutschlektüre kennen lernen und viele Theatergänger in ihm nichts als die deprimierende Charakterstudie eines von Wahnvorstellungen heimgesuchten Frauenmörders sehen, beweist einmal mehr, dass es dem Unfertigen nicht gut tut, wenn man es abrundet, es künstlich vollenden will. Denn mit der Vollendung geht meist auch etwas verloren. Im Fall des "Woyzeck" sogar der größere Teil.
Als der hessische Hitzkopf Büchner 1837 mit nur 23 Jahren stirbt, hinterlässt er drei Szenensammlungen, die das "Woyzeck"-Drama in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung wiedergeben. Eine Reihenfolge der Szenen gibt es nicht. Manche Episoden finden sich in allen drei Fassungen, andere nur in einer oder zweien. Auf deutschen Bühnen und in deutschen Büchern hat sich auf dieser Basis seit langem eine Einheitsversion des "Woyzeck" herausgebildet, die viele Szenen weglässt und alle übrigen so logisch wie möglich aneinander reiht - mit mäßigem Erfolg.
Das Freie Werkstatt Theater in Köln macht es nun erstmals anders. "Woyzeck³" heißt die neue Produktion des Hauses, die den Fragmentcharakter des Werkes ernst und Büchner beim Wort nimmt: Unter der Regie von Kay Link spielen fünf Schauspieler die drei ursprünglichen Fassungen des "Woyzeck"-Fragments an einem Abend. Dabei bleiben die Szenen der einzelnen Versionen in genau der Reihenfolge, in der sie der Bruder des Dichters nach dessen Tod aufgefunden hat. Die Ausgangslage ist immer die gleiche: Woyzeck, der arme Schlucker, muss sich als einfacher Soldat von seinem Hauptmann schikanieren lassen und lässt sich von einem zwielichtigen Arzt für groteske Experimente missbrauchen, um an etwas mehr Geld zu kommen. Außerdem leidet er unter den Stimmen, die er immer wieder hört. Mit der Hure Marie hat Woyzeck ein Kind, doch sie betrügt ihn mit einem Tambourmajor, woran er zerbricht.
Auf der Grundlage dieser Konstellation versteht sich "Woyzeck³" als eine Folge von Angeboten: So wie Regisseur Link die drei Fragmentfassungen interpretiert, entscheidet der Zuschauer selbst, wie er Handlung und Hauptfigur sehen will. Wer ist der Soldat Woyzeck: ein gutmütiger Trottel, den die innere Unruhe wie ein Fieber überfällt und den die Eifersucht zur Verzweiflungstat treibt? Ein von Albträumen Gejagter, der wie unter Zwang die Geliebte ermordet und selbst nicht weiß wieso? Oder ein von Anfang an in seiner eigenen Welt lebender, misstrauischer Spinner, der überall Gespenster sieht? Und: Muss "Woyzeck" immer eine Tragödie sein? Kay Links "Woyzeck³" ist nicht nur intellektuell anregend. Er kommt feurig und spielfreudig daher, schrill und schnell, manchmal hitzig wie das Fieber, stellenweise lustig, immer hart am Grotesken, experimentell, bewusst unfertig und wie ein Mosaik aus widersprüchlichen Regungen und Empfindungen - so wie Woyzeck eben ist, so wie Menschen eben sind.
Schauspielerisch bewegt sich die Inszenierung auf hohem Niveau: Neben äußerst wandlungsfähigen Nebendarstellern brillieren vor allem Holger Stolz als Woyzeck mit tausend Facetten und Christina Vayhinger als mal sarkastisch-liederliche, mal tiefgründig-charakterstarke Marie. Überzeugend auch der intelligente Einsatz nur weniger Requisiten auf der fast leeren Bühne. Insgesamt ein Abend, der alles Andere als deprimierend und verstaubt ist, sondern aus dem kreativen Umgang mit dem Fragmentarischen ein hohes Maß an Vollendung erreicht.
Kölner Stadtanzeiger
Woyzeck rennt dreimal
VON JESSICA DÜSTER, 05.03.07
„Branndewein, das ist mein Leben, Branndewein, der gibt Courage!“ So lässt Georg Büchner die Handwerksburschen in seinem „Woyzeck“ singen. Das launige Lied hat Eingang gefunden in die Inszenierung des Freien Werkstatt Theaters - intoniert von einem Alleinunterhalter, in einem Stil, der Helge Schneider vor Neid erblassen ließe. Die Soldaten Woyzeck und Andres vergnügen sich mit einem Joint. Die untreue Marie wird als Handpuppe mit einem grünen Plastikmesser von Kasperle-Woyzeck erstochen. Doch was sich zunächst als laute, comedyhafte Anverwandlung eines großen Bühnenklassikers zu entwickeln droht, findet in der Spielfassung von Gerhard Seidel und Kay Link schnell zu einem fesselnden, kraftvollen Rhythmus und wirkt vom Geist des 23-jährigen Büchners authentisch durchtränkt.
Das Gelingen ist zum einen der Entscheidung zu verdanken, Büchners - nur in Form von drei bruchstückhaften Handschriften überlieferten - Stoff so fragmentarisch zu belassen, wie der 1837 an Typhus verstorbene Autor sein letztes Werk hinterließ. Während die 27 Szenen meist in einer nachvollziehbaren Anordnung als ein Stück gespielt werden, werden hier drei Versionen des Eifersuchts- und Sozialdramas - plus Puppenspiel-Prolog - angeboten, die neben dem Mord am Schluss zwei alternative Enden bieten. Am selben Abend. Hintereinander. Nicht Lola, sondern Woyzeck rennt - durch drei mal rund 45 Minuten.
Ein Getriebener bleibt der von Wahnvorstellungen Gepeinigte auch in diesem dramatischen Triplett, doch wird sein Wesen hier recht plastisch: Holger Stolz wechselt überzeugend vom sensiblen Jüngling über den gefährlichen Macho zum konfusen Paranoiden. Auch Marie erscheint durch diese Konstruktion als gleichsam dreidimensionaler Charakter (fabelhaft: Christina Vayhinger). Neben den Hauptdarstellern begeistern Sven Heiß, Susanne Flury und Peter Clös, die mit komödiantischem Talent und eindrucksvollem Körpereinsatz die restlichen Figuren spielen.
Beim Wechsel zwischen den Personen ändern kleine Requisiten effektvoll die schlichten Kostüme im modernen Einheitslook, ebenso wie ein Drehprisma, ein paar Holzbauten und die einfallsreiche Lichtsetzung den tiefen, kargen Bühnenraum permanent effektvoll umgestalten. „Es soll singen“, sagt ein Kind im „Woyzeck“ - und so durchziehen viele originell platzierte Musikstücke aus Büchners Fragmenten den Theaterabend.
Kölnische Rundschau
Alle Hoffnung verspielt
Packend: Woyzeck³ im Freien Werkstatt Theater
„Es soll singen“, fordert ein Kind in Georg Büchners „Woyzeck“. Und „Es“ singt. In der von Gerhard Seidel und Kay Link aus drei Schlußfassungen montierten Inszenierung des letzten Büchner-Dramas gibt es viel Musik.
Büchner hatte Volkslieder wie den „Jäger aus Kurpfalz“ zitiert oder selbst neue Texte zu vorhandenen Melodien geschrieben. Freilich wird hier nicht fröhlich drauflos musiziert, sondern die Lieder verleihen der Geschichte des Gehilfen Franz Woyzeck ein düster-fatalistisches Moment. Das „Es“ singt, eine Art kollektives Unbewußtes, das alle Bestrebungen nach Unabhängigkeit und Menschenwürde mit einem Ton düsteren Moralisierens beantwortet und dem in seiner Folgerichtigkeit nicht zu entfliehen ist. Ein Sog entsteht, der vom ersten Bild an spürbar ist und der sich letztlich im Finale einlöst.
Dreimal erlebt man im Freien Werkstatt Theater, wir sich dieser Prozeß vollzieht, denn im Nachlaß des 1837 an Typhus gestorbenen jungen Arztes fanden sich drei Schlußfassungen. Deshalb lautet der Titel nun „Woyzeck³“.
Woyzeck (Holger Stolz) und Marie (Christina Vayhinger), die gerade ein Kind von ihm bekommen hat, begegnen auf dem Jahrmarkt einem Tambourmajor (Sven Heiß). Der erpreßt sich Marie von Woyzeck; in einer anderen Version lockt er sie zu sich, jedenfalls endet das Stück in einem Eifersuchtsdrama. Der zerstörerische Impuls richtet sich dann entweder gegen Marie oder gegen Woyzeck selbst, oder Woyzecks Enttäuschung über den Gang der Dinge zieht sich schmerzvoll dahin.
Seidel und Link strichen das umfangreiche Material zusammen (Anm.: Eben nicht! kl), um nicht einzelne Szenen immer wieder spielen zu müssen (Anm.: Eben doch!). Das gibt Tempo und verleiht dem Stück eine rohe Unfertigkeit, die ihren Reiz hat. Den Preis für diese Entscheidung muß Woyzeck bezahlen, eine Figur, die nun zu einer Schablone des ausgebeuteten, verstörten Menschen wird, der als hoffnungsloser Fall durch die Inszenierung stürmt.
Woyzeck verliert an psychologischer Substanz, bietet wenig Raum zur Identifikation, so daß sich etwas von der Beklemmung, die der Fall auslöst, verflüchtigt. Holger Stolz versucht durch kraftvolles Agieren gegenzusteuern. Das macht er eindrucksvoll, aber leise Gesten wirken oftmals stärker als laute Schreie. Eine starke Vorstellung bietet Christina Vayhinger. Sie verwandelt die Marie in eine erwachsene Frau und damit in eine eigenständige Person, was nur selten in „Woyzeck“-Inszenierungen gelingt. Susanne Flury und Sven Heiß agieren professionell in den Nebenrollen und Peter Clös bringt in wechselnden Verkleidungen eine belebend groteske Note ein. Eine Inszenierung, die Mut beweist, die Auseinandersetzung fordert und mit klugen Ideen aufwartet. Auch wenn nicht alles glückt und manche zusätzliche Streichung ratsam wäre: packendes Theater.
Thomas Linden
kultura extra online
Woyzeck³
Zweieinhalb Stunden Georg Büchners „Woyzeck“ – das klingt zunächst einmal nach einem anstrengenden Theaterabend, zumal alle drei Fassungen des Fragment gebliebenen Werks hintereinander gespielt werden. Aber weit gefehlt. „Woyzeck³“ am Freien Werkstatt Theater ist ein stimmiger, konsequenter Abend, der nicht nur philologische Interessen befriedigt, sondern dem Fragmentcharakter auf ungewöhnlich Weise gerecht wird.
Üblich ist es bei „Woyzeck“, aus den überlieferten Versionen eine Spielfassung zu erstellen. Regisseur Kay Link und Dramaturg Gerhard Seidel haben anders entschieden – sie spielen drei Fassungen hintereinander. Die erste Fassung gibt eine Art Handlungsgerüst, das durch die Szenen der zweiten und dritten Fassung ergänzt wird. Es gibt Szenen, die in mehr als einer Fassung auftauchen – wie beispielsweise die, in der Woyzeck vom Doktor untersucht wird –, aber insgesamt hält sich die Zahl der Überschneidungen in Grenzen. An einer Stelle wird dem Prinzip der Wiederholung im an sich linearen Ablauf der einzelnen Fragmente Tribut gezollt: Andres trifft auf Woyzeck und führt eine kurze Unterhaltung mit ihm, und das dreimal hintereinander (wobei nicht immer der gleiche Inhalt besprochen wird). Das Vorgehen ist einfach: Woyzeck sitzt auf der Bühne, es erklingt Jahrmarktmusik, die in der 1. Fassung live gespielt wurde, Andres kommt hinter einem Bühnenbildelement hervor, spricht mit Woyzeck, geht wieder hinter das Bühnenbildelement zurück, die Musik stoppt, Marie – bzw. Christina Vayhinger – lässt eine Dose fallen, Musik setzt wieder ein, Andres tritt wieder auf etc. Hier werden gewissermaßen im direkten Vergleich drei Szenen ähnlichen Inhalts geboten.
Trotz dieser Vielfalt an Szenen bleibt der Zuschauer stets gut informiert. Das liegt sicherlich auch an der Einfachheit der Mittel, die verwendet werden: Das Bühnenbild besteht aus einigen Holzstegen und einer Konstruktion, die einer Schultafel ähnelt, die zur Mitte hin spitz zuläuft. Es gibt drei Hintergrundmöglichkeiten: Gras, graue Steinwand oder kleine Kacheln, die Woyzecks und Maries Wohnung symbolisieren – wobei es hier noch den besonderen Clou gibt: Einzelne Elemente lassen sich herausziehen oder öffnen. Und es gibt in diesem Raum rechts ein angedeutetes Fenster, aus dem Marie den Tambourmajor beobachtet. Zugleich also sehr vereinfacht und doch verspielt.
Requisiten wie die opulenten Ohrringe, die Marie angeblich gefunden hat, werden wiederverwendet, Musik wird erneut gespielt. Diese Elemente tragen so ihren Teil dazu bei, dass ein dichtes Netz über dem Abend gewoben wird, das es dennoch jedem Zuschauer erlaubt, sich seine eigene Sicht auf die Dinge zu bilden. Es sind Angebote für den Zuschauer, genauer hinzusehen und hinzuhören und das zusammenzubauen, was für jeden Einzelnen sinnhaft ist.
Bemerkenswert ist Links Fähigkeit, immer wieder neue Bilder und Handlungen im Zusammenhang mit den Bühnenelementen zu finden. Die Holzbauteile dienen als Bett, als Massageliege bei der Rasur des Hauptmanns, als Tanzboden oder sie werden zu Beginn von Fassung drei einfach mal aufrecht hingestellt und lackiert. Der Kinderwagen enthält zugleich alles, was der Doktor für seine Untersuchung braucht. Woyzeck ist die Untersuchung des Doktor dabei so bekannt, dass er mit den Requisiten immer einen Schritt weiter ist als dieser. Diese Untersuchung hat sowohl in ihrer ersten als auch in der nächsten Fassung immer wieder den gleichen absurden Ablauf. Und dennoch schafft es Link mit Kleinigkeiten, die zweite Fassung von der ersten zu unterscheiden: Beim zweiten Mal zieht Woyzeck einen Arztkittel über sein Kostüm an und imitiert den Doktor, was der Figur zugleich eine Stärke gibt, die sie in vielen Inszenierungen, in denen sie als Opfer der Umstände dargestellt wird, nicht hat.
Link gelingt es tatsächlich, das Stück ohne drückende Schwere zu inszenieren. Er lässt der Komik Raum – manchmal bis zum Klamaukhaften, wenn beispielsweise Peter Clös und Sven Heiß als Kinder auftreten, wie man es von Kindergeburtstagen kennt: auf den Knien rutschend, die Vorderarme als Vorderbeine. Dennoch wird es auch bitterernst. Wie Woyzeck mit seiner Marie im dritten Teil umgeht, das raubt einem gelegentlich den Atem und bietet zugleich eine ungewöhnliche und doch zwingende Sichtweise auf den Text. Link und Seidel haben hier sehr genau gelesen.
Zu bemängeln ist dabei vielleicht nur, dass es am Anfang doch sehr viele Lieder gibt, so dass es etwas dauert, bis der Abend Schwung aufnimmt. Und bei manchen Dingen muss man etwas Geduld haben, bis sich klärt, welche Funktion sie haben oder wie sie sich in das Ganze einfügen. So bleibt der Narr in der ersten Fassung als Figur vage, gewinnt erst in Fassung zwei und drei Kontur. Durchweg überzeugend sind die Schauspieler, wobei vor allem Peter Clös, Susanne Flury und Sven Heiß ihren Figuren entsprechend auch Mut zur Karikatur beweisen.
Sicherlich ist das Risiko nicht gering, dass das FWT und die Produktionsmacher mit diesem Abend eingegangen sind, aber es wird belohnt.
Karoline Bendig
rheinkultur
Woyzeck³ - Georg Büchners Dramenfragmente
Von Georg Büchners „Woyzeck“ gibt es keine Fassung letzter Hand, sondern nur drei Entwürfe. Das „vollständigste“ Fragment endet nicht mit dem Mord an Marie, sondern mit einem Suizid des Protagonisten. Das FWT läßt die Originale sukzessiv ablaufen. Das führt zwar schon mal, wie im Falle der Jahrmarktsszene, zu Handlungsüberschneidungen, doch bleibt die individuelle Beleuchtung der einzelnen Dramenversionen deutlich erkennbar. Diese formen Charaktere und Situationen manchmal sogar fast neu. Das gewohnte „Arme Leut“-Milieu wird beispielsweise durch fröhliche erotische Farben aufgehellt, die Verbohrtheit Woyzecks oder Mariens Laszivität wirken psychologisch neu begründet. Das verdankt sich freilich auch den hervorragenden Schauspielern. Besonders das Liebespaar (Holger Stolz und Christina Vayhinger) verzehrt sich nachgerade in seinen darstellerischen Aufgaben, wobei Kay Link, welcher die andeutende Ausstattung von Anton Lukas für seine einfallsreiche Regie geschickt nutzt, u.a. der Marie eine so kaum je gesehene, ganz aus dem Inneren heraus gefühlte Bibelszene aninszeniert. Die restlichen Figuren des Dramas sind auf Susanne Flury, Sven Heiß und Peter Clös virtuos verteilt. Ein aufregender Abend, preisverdächtig.
INTERVIEW I
(Magazin 'Choices' im Gespräch mit Kay Link)
Woyzeck rennt
Wenn es eine Bühnenfigur gibt, die sinnbildlich für die geschundene Kreatur stehen kann, dann ist es Georg Büchners Woyzeck. So genau und brutal wurden die Mechanismen moderner Unterdrückung nie mehr geschildert. Das Stück ist allerdings Fragment geblieben. Jetzt inszeniert Regisseur Kay Link am FWT alle verfügbaren Fassungen an einem Abend.
Der Titel „Woyzeck“ verweist darauf, dass Sie alle drei Fassungen des Stücks spielen. Wie kam es dazu?
Der Vater des Projektes ist der Dramaturg Gerhard Seidel vom FWT; er hatte die Idee, alle drei bzw. vier Fragmente des „Woyzeck“ an einem Abend zu spielen.
In der Regel werden diese Fassungen ja zu einem runden Handlungsablauf mit einem dramaturgischen Bogen zusammengeschoben. Es gibt allerdings kaum Überschneidungen, nur wenige Szenen der einen Fassung tauchen in den anderen auf. Wir wollen das jetzt in seiner Löchrigkeit offen legen und versprechen uns davon, dass dadurch Woyzeck weniger als Getriebener und mehr als Handelnder erscheint.
Inwieweit verändert das das gewohnte Woyzeckbild?
Wie die meisten kenne ich das Stück aus meiner Schulzeit. Im üblichen „Woyzeck“-Klischee herrscht immer schlechtes Wetter. Es ist trüb, und Woyzeck ist ein gehetztes, gejagtes Subjekt. Durch die Lesart mit den drei Anläufen bekommt man mehr Licht hinein. Woyzeck ist dann nicht nur ein geknechtetes Wesen, sondern es gibt plötzlich viel mehr Lebensmöglichkeiten.
Aber sie spielen den Text linear?
Ja, aber wenn man drei Handlungsverläufe mit verschiedenen Enden hat, gibt es geheimnisvolle Verbindungen zwischen diesen Abläufen, die als Spuren in der Inszenierung durchschimmern. Der Woyzeck des zweiten Durchgangs hat ja eine Erinnerung an den des ersten. So findet er in Teil 2 das Messer dort wieder, wo es im ersten liegen blieb. Es gibt also Wiederholungen, aber auch Abweichungen. Das ist ein wenig wie bei „Lola rennt“.
Was heißt das für die Figur des Woyzeck?
Im ersten Durchgang erleben wir einen ganz ‚normalen’ Woyzeck, einen jungen Mann mit mehreren Jobs, der sehr leichtfüßig und sensibel daherkommt, der aber an der sexuellen Freiheit, die sich Marie nimmt, zerbricht. Im zweiten ist er ein wesentlich härterer, eher seiner Männerrolle entsprechender Typ, der kaum redet und durch einen kleinen Anlass in eine tödliche Eifersuchts- und Aggressionsspirale gerät. Im dritten schließlich erleben wir einen manischen Woyzeck, der sich in merkwürdige Theorien reinschraubt, eine Art Hobbywissenschaftler, der irgendwann abdriftet.
Sind diese drei Fassungen auch als Lebensentwürfe zu verstehen?
Genau. Ganz platt gesagt: Es ist nicht zwangsläufig, dass ein Minijobber mit drei Jobs, wenn die ganze Welt ihn ausnutzt und das System sowieso böse ist, seine Freundin umbringt. Diese Zwangsläufigkeit nehmen wir raus und probieren verschiedene Möglichkeiten aus.
INTERVIEW II
Was bedeutet die kleine drei hinter Woyzeck³?
Sie soll markieren, daß wir nicht die bekannte, gängige Fassung dieses spannenden und verstörenden Stückes spielen, wie man es z.B. aus der Schul-Lektüre oder den Verfilmungen kennt, sondern daß wir direkt mit den drei Handschriften arbeiten – ich spreche immer von dreien, da die vierte ja nur aus zwei Szenen besteht. Sie fließen teilweise in den Prolog und den Epilog ein. Die drei steht für drei Anläufe, drei Möglichkeiten. Die Idee stammt übrigens vom Autor und FWT-Dramturgen Gerhard Seidel.
Dreimal Woyzeck an einem Abend? Dreimal das gleiche Stück?
Dreimal Woyzeck ja, dreimal das gleiche Stück nein. Die drei Handschriften, über die ich sprach, sind Fragmente geblieben, die Büchner nicht mehr zu einer einzigen, autorisierten Fassung gebracht hat. Was wir kennen, sind in der Regel Lese- oder Spielfassungen, die aus allen Handschriften zusammengeschoben wurden. Man addierte also alles, was man fand, um ein halbwegs rundes Drama von eineinhalb Stunden Länge zu erhalten. Dabei geht der spannende Aspekt verloren, daß sich die drei Handschriften stark unterscheiden. Es gibt zwar Überschneidungen, jedoch auch gravierende Abweichungen.
Welche?
Am deutlichsten wird das an den jeweiligen Schlüssen. Es ist doch bemerkenswert, daß nur in einer Handschrift Woyzeck Marie tatsächlich umbringt! Ein anderes Fragment deutet ziemlich stark an, daß Woyzeck sich selbst das Leben nimmt. Er macht in der letzten Szene quasi sein Testament und vermacht seine wenigen Habseligkeiten seinem Freund Andres. Das Ende unseres dritten Durchgangs (Anmerkung: Handschrift 2) wurde von Büchner sehr offen gestaltet.
Und auch die Charakterisierung von Woyzeck und Marie sowie der Welt, in der sie sich bewegen, ist in jeder Handschrift anders. Unser erster Woyzeck ist wesentlich fragiler und sensibler als der des zweiten Durchgangs, der eher ein Macho-Typ ist. Er spielt seine Männerrolle unreflektiert, steigert sich durch einen kleinen Auslöser in maßlose Eifersucht, redet nicht, sondern handelt. Es gibt tatsächlich keine Auseinandersetzung über die vermeintliche Untreue Maries.
Wieso vermeintlich? Büchner schrieb doch sogar eine Art Sex-Szene zwischen Marie und dem Tambourmajor, es steht also im Text.
In welchem Text ist doch die Frage. Wo steht das? Das Abenteuer mit dem Tambourmajor ist nämlich nur einmal „dokumentiert“ – interessanterweise ist das nicht die Fassung, in der der Mord verübt wird.
Ein Wort zu den drei Marien?
Unsere erste Marie ist eine sehr selbstbewußte Frau, die ihre Freiheiten, auch die sexuellen, lustvoll wahrnimmt und einfordert. Unsere zweite Marie scheint reifer, beständiger zu sein. Über die dritte Marie erfahren wir zunächst wenig, da Ihr Anteil am Text sehr gering ist. Erst am Schluß, wenn Woyzeck das Messer auf sie richtet, realisiert man ihre Stärke und ihren Mut. Vielleicht auch den Mut einer Verzweifelten.
Was bedeutet ein solches Projekt wie Woyzeck³ für die Umsetzung auf der Bühne?
Gerhard Seidels Idee, die einzelnen Handschriften jeweils als eigene Stücke ernst zu nehmen, hat etwas Bestechendes. Wir legen dadurch die Löcher, die Brüchigkeit der Fragmente offen. Diese Leerstellen bedeuten auf der Bühne Freiheit, erzeugen allerdings auch Unsicherheit. Die Darsteller müssen sich ja über die vielen Leerstellen, die uns Büchner hinterlassen hat, Brücken bauen, damit sie sich zu Beginn der nächsten Szene in die jeweiligen Situationen und emotionalen Zustände versetzen können. Es gibt keine kontinuierliche, psychologische Entwicklung. Die verläuft eher in Sprüngen, emotionale Achterbahn. Peter Clös erfand das Bild vom Schauspieler, der sich wie ein Eisbär auf die nächste Textscholle zu retten versucht. Kein schlechtes Bild – und gerade in Zeiten der Erderwärmung auch ein beängstigendes… (lacht)
Was reizt sie an diesem Projekt?
Ich finde es zunächst unglaublich erleichternd, mit den gängigen Woyzeck-Klischees – auch in meinem eigenen Kopf – aufzuräumen. Woyzeck – das war immer schwer, gewichtig, düster, das manische Augenrollen Kinskis inbegriffen. Dank der für mich ganz neuen Textgestalt merke ich, daß der Stoff durchaus auch leichte, witzige, groteske Seiten hat. Die Schwierigkeit ist natürlich drei so löchrige Texte unter einen Spannungsbogen zu bekommen, ohne die fragmentarische Gestalt zu verleugnen.
Wie bist Du da vorgegangen?
Anton Lukas, mein Ausstatter, und ich sind immer zweigleisig gefahren: Das einzelne Stück isoliert betrachten und gleichzeitig das große Ganze im Blick behalten. Gar nicht ganz so einfach. Das Bühnenbild und die Kostüme bestehen aus Versatzstücken, die sich bei jedem Durchgang verändern und dennoch eine Kontinuität bilden. Wiederholung und Abweichung ist ein wichtiges Moment des Abends. Neben den Hauptfiguren bilden einige Motive bzw. Objekte, wie der Jahrmarkt, das Messer oder der Kinderwagen und vor allem die Figur des Narrs eine Art Klammer. Dieser hat bei Büchner nur wenige, den Leser eher verwirrende Sätze zu sprechen, und wird oft gestrichen. „Der Narr“ oder „Der Idiot“, bei uns gespielt von Susanne Flury, ist in allen Teilen präsent, mäandert durch verschiedene Handlungsstränge und wirft neue Fragen auf. Vieldeutig, unergründlich, assoziativ – so wie Büchners Woyzeck-Texte.
Die Volkslieder werden bei Woyzeck-Aufführungen oft gestrichen. Wie geht ihr damit um?
Wir haben sie nicht gestrichen. Gerhard Seidel hat in Archiven und Liedsammlungen gewühlt. Was wir nicht mehr identifizieren oder auffinden konnten, hat Jens Wehn speziell für diese FWT-Produktion komponiert. Er hat sich sehr in das sogenannte Liedgut eingehorcht und seine Kompositionen daraus entwickelt. In der Tat wird sehr viel gesungen. Auch damit mußten wir umgehen lernen, weil es nicht immer szenisch zwingend erscheint. Doch gestrichen haben wir nicht, weil ich hoffe, daß auch die musikalischen Motive den Abend auf einer Ebene jenseits des Textes vernetzen.
Bist Du also ein „werktreuer“ Regisseur?
(lacht) Dieser Begriff ist ja hochproblematisch, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Meine Bilder und Ideen hole ich immer aus dem Text oder der Partitur, also dem Werk. Insofern bin ich schon werktreu, wenn ich auch hin und wieder kräftig den Stift ansetze, mit dem Material sehr frei umgehe und man diesen Begriff für meine Arbeit im Allgemeinen nicht verwendet. Doch dieses Mal war es anders. Zum ersten Mal war ich in der Position desjenigen, der den Text verteidigt und fast keine Streichungen zuließ. Es erschien mir zu einfach. Ich wollte mit den Handschriften, so wie sie hinterlassen sind, umgehen und sie nebeneinander stellen. Auch in dieser Hinsicht ist Woyzeck³ eine ganz neue Erfahrung für mich.
Nominiert für den Kölner Theaterpreis 2007